Urteil vom 9. November 2016 – VIII ZR 73/16
Der Bundesgerichtshof hat sich heute in einer Entscheidung mit der Frage befasst, ob schwerwiegende persönliche Härtegründe auf Seiten des Mieters im Einzelfall zur Folge haben können, dass ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung im Sinne des § 543 Abs. 1 Satz 2 BGB* trotz einer erheblichen Pflichtverletzung des Mieters nicht gegeben ist.
Sachverhalt und Prozessverlauf
Die 97-jährige Beklagte zu 1 hat – zusammen mit ihrem zwischenzeitlich verstorbenen Ehemann – im Jahr 1955 von den Rechtsvorgängern der Klägerin eine Dreizimmerwohnung in München und im Jahr 1963 zusätzlich eine in demselben Gebäude und Stockwerk gelegene Einzimmerwohnung angemietet. Die (bettlägerige) Beklagte zu 1 bewohnt die Dreizimmerwohnung und steht seit einigen Jahren aufgrund einer Demenzerkrankung unter Betreuung. Der Beklagte zu 2 bewohnt seit dem Jahr 2000 die Einzimmerwohnung. Seit dem Jahr 2007 ist er Betreuer der Beklagten zu 1 und pflegt sie ganztägig. Im Jahr 2015 äußerte der Beklagte zu 2 in mehreren Schreiben an die Hausverwaltung grobe Beleidigungen gegenüber der Klägerin. Die Klägerin sprach daraufhin die fristlose Kündigung des Mietverhältnisses gemäß § 543 Abs. 1 BGB* aus.
Das Amtsgericht hat die Räumungsklage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Landgericht ihr allerdings stattgegeben. Bei derart groben Beleidigungen liege die Unzumutbarkeit einer Fortsetzung des Mietvertrages für die Klägerin auf der Hand. Die von der Beklagten zu 1 vorgebrachten persönlichen Härtegründe könnten erst im Rahmen einer späteren Zwangsvollstreckung im Wege eines Vollstreckungsschutzantrags nach § 765a ZPO** geprüft werden Mit der vom Senat zugelassenen Revision begehren die Beklagten die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs:
Der unter anderem für das Wohnraummietrecht zuständige VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat in seiner heutigen Entscheidung unterstrichen, dass zu den bei der Gesamtabwägung einer nach der Generalklausel des § 543 Abs. 1 BGB* erklärten fristlosen Kündigung zu berücksichtigenden Umständen des Einzelfalls ohne weiteres auch schwerwiegende persönliche Härtegründe auf Seiten des Mieters gehören.
Denn § 543 Abs. 1 Satz 2 BGB* schreibt ausdrücklich eine Abwägung der beiderseitigen Interessen der Mietvertragsparteien und eine Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vor. Die Abwägung auf bestimmte Gesichtspunkte zu beschränken und deren Berücksichtigung – wie das Berufungsgericht – auf das Vollstreckungsverfahren zu verschieben, verbietet sich mithin bereits aufgrund der eindeutigen gesetzlichen Regelung. Bei drohenden schwerwiegenden Gesundheitsbeeinträchtigungen oder Lebensgefahr sind die Gerichte zudem verfassungsrechtlich gehalten, ihre Entscheidung auf eine tragfähige Grundlage zu stellen und diesen Gefahren bei der Abwägung der widerstreitenden Interessen hinreichend Rechnung zu tragen. Das kann bei der Gesamtabwägung nach § 543 Abs. 1 Satz 2 BGB* zur Folge haben – was vom Gericht im Einzelfall zu prüfen ist -, dass ein wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung wegen besonders schwerwiegender persönlicher Härtegründe auf Seiten des Mieters trotz seiner erheblichen Pflichtverletzung nicht vorliegt. Das Berufungsgericht hätte insoweit dem Vortrag der Beklagten nachgehen müssen, wonach die Beklagte zu 1 auf die Betreuung durch den Beklagten zu 2 in ihrer bisherigen häuslichen Umgebung angewiesen und bei einem Wechsel der Betreuungsperson oder einem Umzug schwerstwiegende Gesundheitsschäden zu besorgen seien.
Der Senat hat deshalb Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
*§ 543 BGB Außerordentliche fristlose Kündigung aus wichtigem Grund
(1) 1Jede Vertragspartei kann das Mietverhältnis aus wichtigem Grund außerordentlich fristlos kündigen. 2Ein wichtiger Grund liegt vor, wenn dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere eines Verschuldens der Vertragsparteien, und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Fortsetzung des Mietverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist oder bis zur sonstigen Beendigung des Mietverhältnisses nicht zugemutet werden kann.
[…]
**§ 765a ZPO Vollstreckungsschutz
(1) 1Auf Antrag des Schuldners kann das Vollstreckungsgericht eine Maßnahme der Zwangsvollstreckung ganz oder teilweise aufheben, untersagen oder einstweilen einstellen, wenn die Maßnahme unter voller Würdigung des Schutzbedürfnisses des Gläubigers wegen ganz besonderer Umstände eine Härte bedeutet, die mit den guten Sitten nicht vereinbar ist. […]
Vorinstanzen:
Amtsgericht München – Urteil vom 14. August 2015 – 417 C 11029/15
Landgericht München I – Urteil vom 20. Januar 2016 – 14 S 16950/15
Karlsruhe, den 9. November 2016
Pressestelle des Bundesgerichtshofs